WERDENDES EUROPA IM FRÜHEN UND HOHEN MITTELALTER

von Svetozar Radojčić

Die Ausstrahlung der byzantinischen Kunst auf die slawischen Länder in der Zeit vom 11. Jahrhundert bis zum Jahre 1453


Die Kunst der späten Antike und des frühen Byzanz war die Kunst des reifen Menschen. Sie entstand auf einem alten Kulturgebiet, in den griechischen Städten des Nahen Ostens, die — in einer ununterbrochenen Kontinuität — das Leben der Antike fortführten. Spontan, ohne allzu durchdachte Programme, gewöhnte das Byzantinische Reich viele Völker, besonders des Morgenlands, an die griechische Denk- und Lebensart. Es ist schwer, die zivilisatorische Macht des Byzantinischen Reichs genau zu definieren, wie auch alle Mittel anzuführen, mit denen es die jungen Völker an sich zu binden wußte. Diese Anziehungskraft von Byzanz, besonders von Konstantinopel, war oft verhängnisvoll wie für das alte Reich, so auch für die Völker, die in den Bereich seiner politischen und kulturellen Macht gerieten.
In der großen Gemeinschaft der Völker, die Byzanz in ihr Kulturgebiet zog, nahmen die Ost-und der größte Teil der Südslawen eine besondere Stellung ein. Die Bulgaren, Serben und Russen empfingen das Christentum von Byzanz und sind bis heute Anhänger des Östlichen Christentums, der Orthodoxie, geblieben.
Alle Slawen entlang der Grenze des Byzantinischen Reichs waren unversöhnliche Gegner der Griechen und nützten jede Gelegenheit aus, Byzanz anzugreifen. Die slawischen Einfälle (582) und Belagerungen von Thessalonike (688—689), die russischen Belagerungen von Konstantinopel (860 und 941), byzantinisch-bulgarische und byzantinisch-serbische Kriege (im 13. und 14. Jahrhundert) hatten sich in das Bewußtsein der Byzantiner tief eingeprägt. Cfr. Auch die Christianisierung der Bulgaren (um 864), der Serben (um 867—874) und der Russen (989) konnte den Eroberungsdrang der jungen Völker an der Grenze des alten Reichs nicht bändigen. Die erste Christianisierung der Ost- und Südslawen — darüber darf man keine Illusionen hegen — beschränkte sich auf eine Auswechslung der Götter, die in der Regel unter dem Druck politisch-militärischer Niederlagen der jungen Völker durchgeführt wurde. Besonders erfolgreiche Verbreiter des Christentums unter den Slawen waren jene Mitglieder slawischer Herrscherfamilien, welche, oft als Geiseln, in Konstantinopel höhere Bildung genossen hatten. Der bulgarische Kaiser Symeon (893—927) kann als Beispiel dienen. Tüchtiger Feldherr, Gründer des großen bulgarischen Reichs, war Symeon Zögling Konstantinopels, »Halbgrieche«, Christ, Schöpfer des ersten literarischen Zentrums in seinem Reich, Übersetzer und »neuer Ptolemaios« (nach dem Lobe seiner Zeitgenossen). Dieser kräftige, gebildete Barbar, der Demosthenes las, war gleichzeitig Verehrer der griechischen Bildung und Todfeind des byzantinischen Reichs. Cfr. Von den Zeiten Symeons, vom 10. Jahrhundert, bis zum Erscheinen der Türken im 14. Jahrhundert, herrschte diese Zweiheit — in verschiedenen Varianten — in allen Ländern der orthodoxen Slawen;
und der letzte Slawen-Kaiser des Mittelalters, der wie Symeon die Eroberung Konstantinopels anstrebte, der serbische Kaiser Dušan, verbrachte einige Zeit als Verbannter in Konstantinopel, wo er hohe Vorstellungen von der Erhabenheit des Berufs des Herrschers bekam — ganz im Sinne antiker Auffassungen. Cfr.
In den Ländern der orthodoxen Slawen hatten die führenden Kreise und die führenden Persönlichkeiten einen ausschlaggebenden Einfluß auf das Schicksal der Kunst, die — wie die Literatur — von Byzanz übernommen war. Aufgeklärte slawische Fürsten waren bei den Bulgaren, Russen und Serben gleichzeitig Herrscher, Krieger und Freunde der Bücher und der Kunst. Die frühreif gewordenen Schichten der dynastischen Elite übten einen starken Einfluß auf das Erscheinen der Kunst und ihren Charakter aus. Im ersten Augenblick ist es fast ein Rätsel, warum die ältesten Formen der christlichen Kunst bei den Süd- und Ostslawen keine Anfängermerkmale tragen. Die erste christliche Kunst bei den Bulgaren, Russen und Serben ist nicht in der bescheidenen Umwelt der Missionare und ihrer halbwilden Gläubigen entstanden. Die byzantinische Kunst drang in die slawischen Länder über die höchsten gesellschaftlichen Schichten ein, und dieser Umstand beeinflußte stark das Schicksal der byzantinischen Kunst unter den Slawen. In partes infidelium wurde aus Konstantinopel die Kunst des kaiserlichen Hofs exportiert und meistens der im gegebenen Augenblick herrschende Stil — das heißt, der modernste. Der erste Mittelpunkt der monumentalen byzantinischen Kunst unter den Slawen entstand in Preslav, der Hauptstadt des Bulgarenkaisers Symeon. Leider sind von den Denkmälern dieser ältesten byzantinischen Kunst in slawischer Mitte nur sehr beschädigte und unsichere Fragmente geblieben. Die noch immer rätselhafte »Rundkirche« in Preslav, die sehr an die justimanische Architektur erinnert, wird mehr aus Gewohnheit, unter dem Einfluß der älteren Fachliteratur, in das frühe 10. Jahrhundert datiert Cfr. — obwohl auch romantisch gesinnte Verehrer des slawischen Altertums zugeben müssen, daß ein Teil der Kapitelle dieser Rotunde aus dem 6. Jahrhundert stammt. Einige feingemeißelte Kapitelle und Chorschranken aus dem 10. Jahrhundert (die aber nicht zu der Rundkirche gehören) und die stark beschädigte, monumentale Ikone des Hl. Theodoros aus glasierten Tonplatten aus Patleina können die prachtvolle Monumentalität der Architektur aus dem Zeitalter Symeons nur andeuten, die — vielleicht mit einigen Übertreibungen — von dem ersten großen bulgarischen Schriftsteller, einem etwas älteren Zeitgenossen Symeons, Johannes Exarch, beschrieben wurden. Alles andere, was mit den »Schichten der Zeiten Symeons« in der späteren mittelalterlichen Kunst des Balkans verbunden wurde, blieb im nebligen Reich der Hypothesen.
Die sehr verlockende Theorie vom »ersten südslawischen Einfluß« auf die russische Kunst ist sehr kühn von den Parallelen aus der Literatur abgeleitet, die jedoch klar sind und die mit festen Argumenten bewiesen werden können. Es scheint, daß man nur auf dem Gebiet der Miniaturmalerei annehmen könnte, manche alten russischen illuminierten Manuskripte seien nach bulgarischen Vorbildern entstanden. Von den großen illuminierten Manuskripten der Vladimir-Suzdal-Schule ist das sogenannte Evangelium Konstantins von Preslav aus dem 12. Jahrhundert bestimmt nach bulgarischem Vorbild entstanden.
Es wäre jedoch naiv zu denken, daß die slawisierte Kunst aus dem Reiche Symeons in ihrer Ganzheit auf die Bildung der russischen monumentalen Kunst Einfluß ausgeübt hätte. Jeder Anfang der byzantinischen Kunst unter den Slawen hatte seine eigene Geschichte. Der Prozeß der Entstehung der ältesten byzantinisch-bulgarischen Kunst im 10. Jahrhundert bleibt im Ganzen noch im Dunkeln; die späteren Zerstörungen, Plünderungen und Kriege haben die Denkmäler der ersten bulgarischen christlichen Kunst in solchem Ausmaß vernichtet, daß man von ihr fast nichts Bestimmtes sagen kann.
Die Anfänge der russischen christlichen Kunst sind gut bekannt. Die monumentalen Kunstwerke, besonders in Kiev und Novgorod, bieten das eindrucksvolle Bild einer Variante der byzantinischen Kunst, die in der europäischen Kunst des 11. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle erhielt.
Die russische Kunst des 11. Jahrhunderts erscheint unerwartet als ein reifer Organismus, der keine Vorgeschichte auf russischem Boden hatte.
Der Westen Europas und Byzanz waren im 11. Jahrhundert — auch auf dem Gebiet der Kunst — zwei ziemlich entfernte Welten. Der Westen begann, aus eigenen Kräften und eigenen Erfahrungen, seinen ersten großen Stil im Mittelalter zu schaffen: die Romanik. Die völlig entwickelte byzantinische Kunst schöpfte ihre Inspiration aus den reichen Traditionen und beharrte bei schon seit langem reifen Lösungen. Während im Westen die Kirche die führende Rolle übernahm, wurde in Byzanz die Kunst vom kaiserlichen Hof selbst verbreitet. Die Rolle des byzantinischen Kaisers als Mehrer des Glaubens tritt auch in der Ausstrahlung der byzantinischen Kunst deutlich hervor. Vom 9. Jahrhundert an wird der byzantinische Kaiser immer mehr als Vice-regens Christi hervorgehoben. Die Idee vom Kaiser als dem Verbreiter des Christentums kam besonders zu Pfingsten zum Ausdruck, als die Bevölkerung Konstantinopels durch die Anführer der Zirkusparteien dem Basileus zujubelte, er verbreite das Christentum und besiege »impietatetn nationum«. Die Mitglieder der Makedonischen Dynastie waren von den Ambitionen der imperialen Missionstätigkeit besonders ergriffen. Das kann man unter anderem in dem Erscheinen neuer, mit der Idee der Mission stark verbundener, ikonographischer Motive des 9. und 10. Jahrhunderts bemerken. In diesem Zeitalter entsteht in der Malerei die monumentale Komposition, welche die Botschaft Christi an die Apostel vor der Himmelfahrt Christi veranschaulichte: »Euntes in mundum Universum praedicate Evangelium ornni creaturae« (Markus 16,15 und Matthäus 28,19). Zur selben Zeit erschien auch der Zyklus von 12 Szenen, die die Missionstätigkeit jedes Apostels darstellen; und ebenso bekam zu dieser Zeit die feierliche Darstellung der Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Apostel eine neue Zugabe: die Vertreter der »Völker« nach ihrem Verzeichnis aus Acta Apostolorum. Cfr.
Wie sehr sich das byzantinische Reich auch bemühte, für das Christentum die einflußreichsten, und dementsprechend schon teilweise gebildeten Schichten zu gewinnen, so dauerte die Vorbereitung der Gründung der monumentalen christlichen Kunst in den neubekehrten Ländern doch fast ein ganzes Jahrhundert. Der Großfürst Igor erschien vor Konstantinopel im Jahre 941; nach der Niederlage kam Igors Gemahlin Olga nach Konstantinopel und trat zum Christentum über; 989 wurde die massenweise Taufe der Russen in Kiev durchgeführt, doch erst fast ein halbes Jahrhundert später wurde die erste erhaltene monumentale russische Kirche errichtet: die Hl. Sophia in Kiev (1037); etwas später (um 1050) wurde die Hl. Sophia in Novgorod erbaut. Die älteste monumentale russische Architektur war aus Holz; die in der Mitte des 11. Jahrhunderts abgebrannte erste Hl. Sophia in Novgorod mit dreizehn Kuppeln; es ist schwer zu sagen, ob sie irgendwelche Ähnlichkeit mit der alten vorchristlichen russischen Architektur hatte. Die älteste bekannte, aus Stein gebaute Kirche in Kiev, die Kirche der Himmelfahrt der Gottesmutter (um 989—996 gebaut), wurde 1240 zerstört. Von ihr weiß man aus russischen schriftlichen Quellen, daß sie von »MACTEPbl OT ГPbK« (griechischen Meistern) erbaut wurde. Cfr.
Griechische Meister hatten auch die beiden Kirchen der Hl. Sophia — in Kiev und in Novgorod — gebaut. Beide Kirchen sind fünfschiffige Basiliken, die erste mit dreizehn, die zweite mit fünf Kuppeln.
Die heutige Gestalt der Hl. Sophia in Kiev kann kaum die ursprüngliche Form dieser alten Kirche andeuten. Sie stand noch im 17. Jahrhundert halbzerstört, als eine malerische Ruine, die vom holländischen Meister Abraham Westerfeld in einer Reihe außerordentlicher Zeichnungen verewigt wurde. Cfr.
Die Anfangsformen der russischen monumentalen Architektur haben deutliche gemeinsame Züge: Alle bedeutenden Kirchen sind nach dem Basilikenplan gebaut, sie haben zahlreiche Kuppeln und einen stark zergliederten Innenraum, der sich immer in ständigen Proportionen vermehrt. Die regula ad quadratum beginnt mit dem zentralen größten Quadrat unter der Hauptkuppel; indem sich die Räume von der Mitte entfernen, werden sie um die Hälfte kleiner. Die geometrische Zeichnung des Grundrisses ist sehr unpräzis, die Massen variieren stark, die Winkel zeigen ebenso starke Abweichungen von neunzig Grad.
Dennoch, diese technische Ungenauigkeit stört nicht im mindesten die eindrucksvolle Monumentalität der ältesten russischen christlichen Architektur. Trotz der katastrophalen Zerstörungen Kievs sind neben der Kirche der Hl. Sophia noch drei bedeutende Kirchen aus dem 11. Jahrhundert erhalten geblieben: die Kirche der Himmelfahrt der Gottesmutter im Kiever Höhlenkloster (1073—1078 — schwer beschädigt im letzten Krieg), die im letzten Krieg ebenfalls ganz zerstörte Kirche des Erzengels Michael im Goldkuppel-Kloster des Hl. Michael (Mitte des 11. Jahr¬hunderts) und die Kirche im Wydubicki-Kloster (1070—1080). Derselben Gruppe der Denkmäler des Kiever Stils gehört auch die relativ gut erhaltene Kirche der Verklärung Christi in Černigov (von 1036) an.
Die Denkmäler der Architektur von Kiev, der chronologischen Reihenfolge nach betrachtet,
zeigen die Tendenz zur Vereinfachung des Bauplans: Es wird immer mehr zum Bau von dreischiffigen Kirchen mit einer Kuppel übergegangen.
Zu dieser Basilikenart, mit Kuppel und Galerien, gehört auch die, später teilweise umgebaute, angesehenste Kirche bei den Südslawen: die Hl. Sophia in Ohrid (Mitte des 11. Jahrhunderts), die das Zentrum der Missionstätigkeit unter dem größten Teil der Südslawen war. Cfr.
Die erhaltenen Denkmäler der Kiever Architektur sind nur bescheidene Reste jenes Kievs ausder Zeit seiner Blüte im 11. Jahrhundert, jener Stadt, von der Thietmar von Merseburg, gewiß übertreibend, schrieb, daß sie mehr als vierhundert Kirchen zählte.
Uns sind heute viele Gründe bekannt, die die Fürsten von Kiev bewogen hatten, die Architektur Konstantinopels anzunehmen. Dennoch ist es interessant zu hören, wie die mittelalterlichen Russen die Annahme der griechischen Architektur erklärten. In der bekannten Legende »Die Prüfung verschiedener Glauben« sagen die Gesandten des Fürsten Vladimir: »Wir kamen zu den Deutschen und sahen in ihren Kirchen viele, die dem Gott dienten, aber wir sahen keine Schönheit« — und was sie später in den griechischen Kirchen erlebten, schilderten sie mit den naiven Worten: »Wir wußten nicht, ob wir auf Erden oder im Himmel sind.«
Dieser erhabene Eindruck der himmlischen Schönheit der Kirche wurde besonders durch die monumentale Malerei hervorgerufen. Die Mosaiken auf goldenem Grund schufen die Illusion einer himmlischen Stimmung. In welchem Ausmaß die angesehensten Kirchen von Kiev mit Malerei reich geschmückt waren, bezeugen die übriggebliebenen Mosaiken in den Kirchen der
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Kiev, Sophienkirche, Mosaik: Apostel aus der Apostelkommunion; 11. Jahrhunderts

Hl. Sophia und des Hl. Erzengels Michael. Die Mosaiken der Kirche der Hl. Sophia (von 1043 bis 1046) sind feierlich, archaisch und mit den etwas älteren Mosaiken in Hosios Lukas in Phokis (ca. 1000) nahe verwandt.
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Kiev, Kirche des Michaelsklosters, Mosaik: Erzdiakon Stephanos; frühes 12. Jahrhunderts

Die Mosaiken der Kirche des Michaelklosters von 1111—12 sind bedeutend höherer Qualität. Die sicheren Proportionen und die eleganten Konturen der Zeichnung geben diesen Mosaiken eine außerordentlich harmonische Linearstruktur. Das prachtvolle Kolorit, ausgeführt in etwas größeren Würfeln, gibt der Malerei der Kirche des Hl. Michaels von Kiev eine strahlende Frische. Obwohl der Hauptmeister dieses Ensembles ein Grieche und seine Gehilfen wahrscheinlich alle Russen waren, kann man sagen, daß diese Mosaiken den Höhepunkt der russischen Meister in der Mosaiktechnik darstellen.
Der Anteil der Russen am Entstehen der Kunst von Kiev, die Verhältnisse zwischen den byzantinischen und russischen Meistern, all das sind schwierige und in der Wissenschaft kaum angeschnittene Fragen. Erst in den letzten Jahren wurden die Werke der Malerei Kievs aus dem 11. Jahrhundert mit der gleichzeitigen Malerei der Kirche der Hl. Sophia in Ohrid verglichen. Obwohl der Vergleich zwischen Mosaiken und Fresken immer schwierig zu ziehen ist, kann man dennoch deutlich bemerken, daß Byzanz in die Länder der getauften Slawen Meister mit sehr ähnlicher künstlerischer Ausbildung entsandte.
Manche Wissenschaftler befassen sich mit dem Gedanken (die Hypothese ist sehr verlockend), daß die für die slawischen Länder bestimmten Meister ihr eigenes Zentrum in Thessalonike hatten, und daß demgemäß die Stadt der Slawen-Apostel Kyrill und Method auch nach dem 9. Jahrhundert ein bedeutendes Zentrum der Mission in den slawischen Ländern war.
Das schnelle Aufblühen und das jähe Ende der Kunst von Kiev bleiben — trotz allen Deutungen mit historischen Gründen — fast rätselhaft. Die Kiever Kunst dauert nur ein Jahrhundert. Das 11. Jahrhundert ist die Zeit des großen Stils von Kiev. Im 12. Jahrhundert besteht in Kiev eine Kunst, aber sie ist keinesfalls die echte Fortsetzung des großen Anfangs.
Gleich anderen jungen Völkern Europas, wechselten auch die Russen oft ihre politischen und kulturellen Zentren.
Es scheint dennoch, daß gewisse Nebenformen der Kiever Kunst neue Themen und neue Lösungen auf neuen Gebieten vorbereiteten. Einige Beispiele der Steinplastik des Kievstils — in rotem Schiefer — sind erhalten geblieben: Das sind wunderbar stilisierte Reliefs mit mythologischem Inhalt, die direkt von den feinen byzantinischen Reliefs auf Elfenbeinkassetten inspiriert sind. Es genügt zu betrachten, wie ein Motiv des Veroli-Kästchens — Bacchus auf einem von Leoparden gezogenen Wagen — in der Ausführung des russischen Meisters aussieht: Das Relief besteht aus einem Flachschnitt in fast zwei Schichten, die weichen Konturen des Vorbilds bekommen auf der russischen Platte starke Züge des hölzernen Kerbschnitts. Die Steinplastik von Kiev deutet in ihrer neuen naiven Stilisierung schon jene üppige, phantastische Plastik der Vladimir-Suzdal-Schule an, die der russischen Kunst des 12. und frühen 13. Jahrhunderts bestimmte Züge der Selbständigkeit gab.
Der beherrschende Einfluß der byzantinischen Kunstkultur auf die Ost- und Südslawen ist
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Neredica bei Novgorod, Erlöserkirche, Fresco: Petrus (aus Himmelfahrt Christi) 1199.

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Kurbinovo, Sv. Djordje, Fresco: Petrus (aus Himmelfahrt Christi) 1191.

hauptsächlich auf das Gebiet der Malerei beschränkt. Die anderen Kunstarten der orthodoxen Slawen waren nicht in solchem Ausmaß an die byzantinischen Vorbilder gebunden, oder konnten sich ziemlich früh von Konstantinopel freimachen.
Die Entwicklung der Architektur in der mittelalterlichen russischen und serbischen Kunst zeigt gewisse parallele Erscheinungen, die bis heute unerforscht und ungedeutet geblieben sind. In der älteren und reichen russischen Kunst geschieht in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts fast nichts; erst von der Mitte des 12. Jahrhunderts beginnt das schnelle Aufblühen der Schule von Vladimir-Suzdal.
Die Architektur von Vladimir-Suzdal stellt im Grund- und Oberbau ein Beispiel kristallklarer Struktur dar, in der die äußeren Formen die inneren Räume genau zeigen. Die Kirchen von Vladimir, meist dreischiffige Basiliken mit drei halbkreisförmigen Apsiden und kühn erhöhter Zcntralkuppel, wiederholen im Grunde schon seit langem formulierte byzantinische Lösungen — »aber in für die byzantinische Kunst fremden Proportionen und Rhythmen und mit reicher Steinplastik, die sich an die Dekoration der romanischen Kirchen Westeuropas anlehnt. Cfr. Die byzantinischen und romanischen Komponenten der Architektur der Vladimir-Suzdal-Schule sind leicht bemerkbar — aber sie stellen keinesfalls das Wesen des neuen, originalen Stils dar.
Die russischen Architekten, von byzantinischen und westlichen Vorbildern inspiriert, gaben ihren Werken eine neue Konzeption. Der kühne Vertikalismus der Kirchen der Vladimir-Suzdal-Schule, die dynamische Rhythmik der Portale, der Bogenfriese, der Kolonnaden mit Konsolen, und vor allem die üppige phantastische Reliefplastik — alle diese Bestandteile schaffen eine neue Ganzheit, in der die logische, statische und harmonisch konstruierte byzantinische Kirche kühn in die Höhe gehoben und, wie mit einem Mantel, mit der plastischen Dekoration bekleidet worden ist, in der die Tiere der russischen Wälder und die Ungeheuer der Volksmärchen am meisten dargestellt sind.
Die russische Architektur aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stellt — zusammen mit der westeuropäischen Architektur der Frühgotik — die östliche Hälfte jener europäischen monumentalen nordländischen Architektur, die immer auf die nördlichen Zonen Europas beschränkt geblieben war, und die nie in die wärmeren Gegenden um das Mittelmeer eindringen konnte. In denselben Jahren, in denen die schönsten Kirchen der Vladimir-Suzdal-Schule — die Himmelfahrtskirche in Vladimir (1158—1161 mit dem Umbau von 1185—1189), die Deme-triuskirche in Vladimir (1193—1197) — entstanden sind, wurde, weh im Süden im mittelalterlichen Serbien, die Kirche der Hl. Gottesmutter in Studenica (1183—1191) vollendet. In der jungen serbischen mittelalterlichen Architektur vollzieht sich, zur selben Zeit wie in Rußland, eine merkwürdige Symbiose byzantinischer und romanischer Elemente. Russen und Serben zeigen in denselben Jahren ein großes Interesse für die westeuropäische Architektur — aber aus ihren Begegnungen mit dem Westen entstehen nicht gleichartige Kunstformen. Die Serben lagen Byzanz und Italien naher und deswegen waren die fremden Einflüsse im mittelalterlichen Serbien viel stärker und entscheidender. Die Kirche der Hl. Gottesmutter in Studenica kann man als eine romanische Marmorbasilika mit byzantinischer Kuppel definieren; sie ist mit ihren Vorbildern stärker verwandt und weniger original, aber jedenfalls den komplizierten und ästhetisch hochentwickelten Kunstwerken der mediterranen mittelalterlichen Kunst näher. Während die russischen Kirchen aus dem späten 12. und frühen 13. Jahrhundert durch ihre frische Ursprünglichkeit beeindrucken, heben sich die serbischen Kirchen derselben Periode, besonders die Kirche des Hl. Georg bei Ras und Studenica, durch die hohe Qualität der künstlerischen Bearbeitung hervor. Auf einer besonders hohen Stufe steht die serbische Plastik des späten 12. Jahrhunderts, die oft an die Vermischung byzantinischer und romanischer Elemente in Venedig und dessen näherer Umgebung erinnert. Cfr.
Die politischen Ereignisse der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts übten einen starken Einfluß auch auf das Schicksal der Russen, Bulgaren und Serben aus. Die erste Eroberung Konstantinopels (1204) ermöglichte die Gründung des serbischen Königreichs (1217) und der serbischen unabhängigen Kirche (1219). Cfr. Der Sieg Ivan Asens II. bei Klokotnica im Jahre 1230 gab den Bulgaren eine sichere politische Übermacht im Inneren der Balkanhalbinsel. Gleichzeitig mit dem Wachsen der militärischen und wirtschaftlichen Kraft der Bulgaren und Serben kamen die russischen Länder in Todesgefahr. Vom Jahre 1223 an begannen die Tatarenhorden, Rußland zu überschwemmen. Im Jahre 1237 plünderte Batu Moskau, Vladimir und Suzdal, 1240 wurde Kiev niedergebrannt.
Die Worte jener, die die Schrecken der Tatareninvasion selbst erlebt hatten, illustrieren am besten den Terror der asiatischen Noraaden: »Und so«, schreibt Seraphion, Bischof von Vladimir, in den letzten Jahren des 13. Jahrhunderts, »richtete Gott seinen Zorn gegen uns, gegen uns ein unbarmherziges Volk, ein böses Volk, ein Volk, das die Schönheit der Jünglinge, die Schwäche der Alten und die Jugend der Kinder nicht schonte. Wir haben den Grimm unseres Gottes gegen uns erhoben ... die Priester wurden mit dem Schwert hingerichtet, die Leichen der Mönche ,dienten den Vögeln als Nahrung, das Blut unserer Brüder und Väter tränkte die Erde wie Wasser. Der Mut unserer Fürsten und Herzöge ist verschwunden; unsere Helden, mit Furcht erfüllt, ergriffen die Flucht. Und wieviele wurden in die Gefangenschaft geführt! Unsere Dörfer sind mit Unkraut bedeckt, unsere Größe ist gestürzt, unsere Schönheit verschwunden. Der Reichtum, die Werke unserer Hände, alles fiel den Fremdlingen zu.« Cfr.
Die Fürchterlichkeit der Tatarenherrschaft hinterließ schwere Folgen im russischen Kulturleben. Von 1240 bis zu den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts konnte sich die russische Kunst nur in den nördlichen Gebieten schwer erhalten, in Novgorod und besonders in Jaroslavl. Von dort stammt eine Reihe berühmter russischer Ikonen, von denen auf jeden Fall die monumentale Gottesmutter Orans von Jaroslavl die schönste ist.
Die künstlerischen Beziehungen zwischen Konstantinopel und den Slawen wurden auch in der Zeit des Lateinischen Kaisertums (1204—1261) nie unterbrochen. Die älteren Auffassungen von den katastrophalen Auswirkungen der Herrschaft der Kreuzritter auf die Entwicklung der byzantinischen Kunst werden immer mehr aufgegeben.
Die monumentale serbische Malerei aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts konnte sich ohne Piilfe der griechischen Meister nicht auf eine so hohe Stufe erheben. In den serbischen schriftlichen Quellen aus dem 13. Jahrhundert wird deutlich von griechischen Meistern aus Konstantinopel und Thessalonike, die für serbische Auftraggeber arbeiteten, gesprochen. Besonders wichtig ist eine Stelle in der Biographie des Hl, Sava, des ersten serbischen Erzbischofs, wo angeführt wird, daß der serbische Erzbischof Verhandlungen mit »kaiserlichen Meistern« geführt hatte — das kann auch bedeuten mit Künstlern, die für den byzantinischen Hof arbeiteten. Als Serbien reif wurde, in seiner Mitte monumentale Kunst zu pflegen, wiederholt sich nach 200 Jahren eine ähnliche Geschichte wie einst in Kiev. Die kaiserlichen Meister, gezwungen vielleicht durch nicht besonders günstige Zustände in Konstantinopel, verpflanzen ihre hohe Kunst diesmal in das Hochland im zentralen Teil der Balkanhalbinsel, in den Staat einer jungen Dynastie, die im 13. Jahrhundert ihrem Volke eine Reihe fähiger Herrscher, zwei große Schriftsteller und einige ehrgeizige Kunst- und Literaturgönner gab.
Dank den vielen Denkmälern auf dem Gebiete des mittelalterlichen Serbien kann man ziemlich deutlich den Charakter und die Qualität seiner Kunst erfassen. Die unlängst gereinigten Fresken in Studenica (von 1209) zeigen völlig klar die Überlegenheit der östlichen Malerei — um 1200 — gegenüber der Malerei jener italienischen Meister, die im 13. Jahrhundert griechische Vorbilder zu wiederholen bemüht waren. Cfr.
Die Nachricht von den Verbindungen des Hl. Sava mit den kaiserlichen Meistern bezieht sich ganz bestimmt auf die Meister, die in Mileševa malten; ihre Werke sind mit einigen Künstler-ateliers in Konstantinopel, in denen merkwürdig frisch erhaltene Traditionen der spätantiken Malerei gehegt wurden, stark verbunden. Das intensive Kolorit der Fresken in Mileševa, der freie Pinselstrich und die heitere Monumentalität erinnern in gewissen Momenten an die schönsten uralten Werke der Wandmalerei der christlichen Antike aus dem 4. Jahrhundert. Cfr. Nur dank den regen Beziehungen zu der byzantinischen Kunst konnte sich die serbische Malerei
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Sopoćani, Sv. Trojica, Fresco: Paulus; um 1265.

in der Mitte des 13. Jahrhunderts zu den Höhen der monumentalen Fresken aus Sopoćani erheben. Cfr. Mehr als 60 Jahre war die serbische Malerei das treueste und genaueste Abbild der byzantinischen Originale — die wahrscheinlich für immer verloren sind. Durch den Umstand, daß die Vorbilder, die existieren mußten, verlorengegangen sind, ist die serbische Malerei des 13. Jahrhunderts der höchste Vertreter der byzantinischen Wandmalerei dieses Zeitabschnitts geblieben.
Daß diese hohe Kunst des 13. Jahrhunderts im Inneren des Balkans nicht nur auf serbische Länder beschränkt war, bezeugt ein außerordentliches, wenn auch vereinsamtes Denkmal der bulgarischen Malerei: die Fresken in Bojana (aus dem Jahre 1259).
Nach der Krise, in der sich die byzantinische Kunst um 1261 befand, und der kurzen Herrschaft eines steifen, bunten und dramatischen Stils, beginnt eine neue, gleichzeitig letzte, große Epoche der Kunst des alten Konstantinopel: der Stil der Palaiologen. Diese durch die Mosaiken in der Kariye Camii und die Kirche der Hl. Apostel in Thessalonike am besten bekannte Kunst übte einen starken Einfluß auf die Kunst der Serben, Bulgaren und Russen aus. Die Vielzahl der erhaltenen Denkmäler auf dem Gebiet der Architektur, Malerei und angewandten Kunst erlaubt uns, schon vom Anfang des 14. Jahrhunderts an zwei wichtige Entwicklungsprozesse zu verfolgen: die regen Beziehungen zwischen den slawischen Ländern und Byzanz und ebenso deutliche künstlerische Verbindungen zwischen den slawischen Ländern untereinander. Am Anfang des 14. Jahrhunderts erscheint die Kunst der Palaiologen als ein sehr homogener Stil bestimmter gleichartiger Formen und sehr komplexer und reicher Thematik. Die dynastischen Verbindungen zwischen den Palaiologen und Nemanjiden übten bedeutenden Einfluß auf die Intensität der byzantinisch-serbischen Beziehungen auf dem Gebiete der Kunst aus. Die Griechen betrachteten die starke Bautätigkeit des Königs Milutin (1281—1321) als eine Herausforderung und beschrieben den serbischen König, den Eroberer der nördlichen Provinzen des Reichs, als einen aufdringlichen Emporkömmling und Halbbarbaren, der überhebliche Ambitionen, mit den Rhomäern zu wetteifern, hegte.
An der Zahl der erhaltenen Kirchen des Königs Milutin — und noch mehr an der Zahl seiner in den zeitgenössischen Quellen erwähnten Kirchen in Serbien, Byzanz (Konstantinopel, Thessalonike und auf dem Athos) und in Palästina kann man sehen, daß er in dieser Hinsicht zu den angesehensten Kirchenstiftern des frühen 14. Jahrhunderts in Europa gehört. Cfr.
Wenn man die byzantinische Kunst in den slawischen Ländern im 14. und frühen 15. Jahrhundert aus näherer Perspektive betrachtet, kann man sehen, daß sie sich in zahlreiche abgetrennte Strömungen deutlich gliedert. An den Beispielen der Kunstwerke aus dieser Zeit kann man leicht verfolgen, wie sich unter dem Einfluß verschiedener geistiger Bewegungen in der späteren byzantinischen Kunst viele Varianten entwickelten. Auf der ersten Stufe ihrer Gestaltung ist die Kunst der Paläologen im Ganzen von Tendenzen eines sehr planmäßig konstruierten Klassizismus durchdrungen, der sich in den serbischen Kirchen aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts besonders reich entfalten konnte.
Die Fresken der Kirche des Hl. Nikita (aus dem Jahre 1307), der Gottesmutterkirche in Prizren (1309), der Kirche der Hl. Joachim und Anna in Studenica (1314), der Kirche des Hl. Georg in Nagoričino (1317) und in der Gottesmutterkirche in Gračanica, mit Hunderten großer
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Gračanica, Uspenja Bogorodice, Fresco: hl. Merkurios; um 1320.

Kompositionen und Tausenden Einzelfiguren, bieten uns die Möglichkeit, auf ihnen alle möglichen Einzelheiten des künstlerischen Ausdrucks und der ikonographischen Bearbeitung einer Malerei, die eine magische Anziehungskraft ausübte und eine kaum faßbare Expansionskraft hatte, zu verfolgen. Cfr. Von den späten Mosaiken aus dem 14. Jahrhundert in der venezianischen Markuskirche bis zu den russischen Fresken im Norden (im Snetogorski-Kloster bei Pskov, 1313) und den fernen georgischen Fresken in Ubissi und Džalendziha, herrschte eine Kunst, die von einem Zentrum ausstrahlte. Cfr. Im ersten Augenblick erscheint die Kunst der Paläologen als ein einheitlicher Stil, aber wenn man das reiche Material, besonders aus dem 14. Jahrhundert, naher betrachtet, kommen sehr deutliche Kontraste und verschiedene Tendenzen zum Vorschein. Die Polyphonie der Kunst Konstantinopels im 14. Jahrhundert ermöglicht uns eine weit tiefere Einsicht, wie in die Struktur der slawisch-griechischen Kunstbeziehungen, so auch in gewisse bedeutende Einzelheiten, die man an den Denkmälern des 11. und 12. Jahrhunderts nicht studieren konnte.
Das gleichzeitige Betrachten der Entwicklung der Kunst im 14. Jahrhundert in Byzanz, Serbien, Bulgarien und Rußland bietet uns die Möglichkeit, jenen Prozeß besser zu verfolgen, den die heutigen sowjetischen Literatur- und Kunsthistoriker »den zweiten südslawischen Einfluß auf Rußland« nennen. Cfr. Die russischen Fresken aus dem Snetogorski-Kloster (1313) sind provinziell und archaisch, das Werk von Meistern, denen die Kunst der Paläologen unbekannt war. Erst um 1360, mit einer Verspätung von einem halben Jahrhundert, erreicht die neue Kunst von Konstantinopel Novgorod. Cfr.
Bulgarien erlebt im 14. Jahrhundert eine neue Renaissance seiner Literatur. Eine rege literarische Tätigkeit begann schon unter der Regierung des Kaisers Ivan Alexander, der an seinem Hofe Schriftsteller, Übersetzer, Kopisten und Miniaturmaler versammelte.
Im kaiserlichen Skriptorium in Tärnovo entstanden bedeutende illuminierte Manuskripte: die bulgarische Übersetzung der Chronik des Konstantin Manasses (aus dem Jahre 1345, die sich jetzt im Vatikan befindet), das Evangelium des Kaisers Ivan Alexander (von 1356, jetzt in London) und der Psalter aus der
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Moskau, Historisches Museum, Handschriftenabteilung, Tomič-Psalter: Tanz der Mirjam mit ihren Schwestern; 1356/66

Sammlung des serbischen Philologen Tomić (1356—1366, jetzt in Moskau). Cfr.
Die Kunsthistoriker zeigten noch in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts kein Interesse für die bulgarischen Miniaturen der Tärnovo-Schule. Bogdan Filov, ein guter Kenner der bulgarischen Kunst, schrieb als ergebener Verehrer des Phidias und der klassischen Kunst über die Miniaturen des bulgarischen Vatikanmanuskripts: »Sie tragen alle Merkmale der Massenproduktion und der Routine und können deshalb kein Interesse als Kunstwerke beanspruchen. Cfr. Heute hört sich dieses scharfe Urteil völlig fremd an.
Die drei Manuskripte von Tärnovo zeugen vor allem vom entfalteten Wissensdrang ihres Gönners. Relativ genau datiert, gehören sie alle der Zeit des Kaisers Ivan Alexander und dem Palaiologenstil an. Gleichzeitig aber zeigen sie die Elemente, aus denen die neue Kunst entstanden ist. Das Londoner bulgarische Evangelium stützt sich völlig auf jene Gruppe illuminierter Manuskripte aus Konstantinopel aus dem 11. Jahrhundert, deren bester Vertreter der Parisinus graecus No. 74 ist. Der Psalter aus der Sammlung Tomić, vom künstlerischen Standpunkt am wenigsten interessant, ist ein Beispiel — in ziemlich provinzieller Interpretation — des Durchschnittsstils Konstantinopels aus dem frühen 14. Jahrhundert. Das älteste der Tärnovo-Manuskripte, das Vatikanische (von 1345) enthält Miniaturen einiger anonymer Meister, die schon von den Tendenzen einer neuen Kunstrichtung ergriffen waren, die viel Dynamik in die byzantinische Malerei der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hineintrug.
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Ivanovo, Höhlenkirche "Crkvata", Fresco: Fußwaschung, 1330/70

Der Stil der Zeichnung der Miniaturen des bulgarischen Vatikanmanuskripts hat einen frischen lebendigen Ausdruck; die Meister zeichnen kühn und schnell, starke Kontrasteffekte hervorrufend. Diese den Figuren, den Landschaften und der Architektur jähe und übertriebene Formen gebende celeritas wird in Bulgarien in denselben Jahren auch auf die Wandmalerei übertragen. Die vor einiger Zeit entdeckten Fresken in der Felsenkirche bei dem Dorfe Ivanovo zeigen keine großen Unterschiede im Vergleich mit dem ähnlichen Stil der Miniaturmalerei. Kleinen Formats, technisch unvollkommen — in der Farbe ziemlich zurückhaltend — sind die Fresken von Ivanovo (von 1360) dennoch eine große, wichtige Neuigkeit im Rahmen der byzantinischen Malerei des 14. Jahrhunderts. Das sind Werke jener Kunstrichtung, die Theophanes der Grieche nach Novgorod verpflanzen wird. Ivanovo deutet die Kunst der Fresken Theophans in der Kirche der Verklärung Christi in Novgorod (1378) an. Ivanovo zeigt die Genesis jener byzantinischen Malerei, die in Serbien um 1370, in Novgorod um 1378 erscheint.
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Novgorod, Verklärungskirche, Fresco von Theophanes (Feofan Grek): Säulenheiliger; 1378

Ohne uns mit unsicheren Hypothesen zu befassen, können wir sagen, daß die dramatische und dynamische Variante der monumentalen Malerei in Novgorod aus dem späten 14. Jahrhundert die Fortsetzung jener Tendenzen (bestimmt byzantinischen Ursprungs) ist, die sich in der bulgarischen Kunst schon aus der Zeit Ivan Alexanders erhalten hatten. Cfr.
Die serbische Kunst aus dem Zeitalter der größten serbischen militärischen und politischen Expansion imponiert nicht besonders durch ihre Qualitäten. Der größte erhaltene serbische mittelalterliche Bau, die Kirche des Christus Pantokrator im Kloster Dečani, weicht von der byzantinischen Architektur sehr ab. Ein Werk des Minoritenfraters Vitus aus Kotor, ist Dečani — vom Standpunkt der Architektur — eine romanisch-gotische dreischiffige Kathedrale, die im Innern dem Bedarf des Kultus der östlichen Kirche angepaßt ist. Cfr. In diesem imposanten Bau, der gemeinsamen Stiftung des Kaisers Dušan und seines Vaters, ist die gemalte Innendekoration fast unbeschädigt erhalten geblieben, das Werk der pictores graeci, der Meister aus Kotor, dem wichtigsten adriatischen Hafen des damaligen serbischen Staates. Diese Malerei, geschickt, kalt und illustrativ, verhält sich zu den Fresken von 1300 bis 1320 ganz ähnlich wie die Kunst Giottos zu der langweiligen Malerei des Taddeo Gaddi und anderer, Giotto nachahmender Meister aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.
Der jähe Zusammenbruch des Reichs des Kaisers Dušan nach seinem Tode (1355) und die ersten Niederlagen der Christen in den Kämpfen mit den Türken, an der Marica 1371 und am Amselfeld 1389, nötigten die späteren serbischen Herrscher, nach dem Norden auszuweichen. Im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts schufen Stefan, der Sohn des Fürsten Lazar, und die Mitglieder der Dynastie Branković das serbische Despotenreich, einen politisch und militärisch labilen Staat, der dank des Reichtums seiner Bergwerke und der diplomatischen Kunst seiner Herrscher bis 1459, der Eroberung Smederevos, bestand.
Siebzig Jahre dauerte die Agonie der politischen Selbständigkeit des mittelalterlichen Serbien. Unter diesen wirklich tragischen Umständen geschah auf dem Gebiet der Literatur und Kunst ein Wunder: Trotz der ständigen Einfälle der Türken ist das serbische Despotenreich der Zufluchtsort der Intellektuellen des Balkans geworden, die im Lande des Despoten Stefan Lazarevic eine neue Heimat fanden. Nach dem endgültigen Untergang Bulgariens 1393 erreichte eine Welle bulgarischer Emigranten Serbien. Aus den griechischen und mazedonischen Gebieten und besonders vom Athos kam eine große Zahl von Mönchen, Schreibern, Meistern und Künstlern. In jener Atmosphäre der allgemeinen Unsicherheit bekam das mittelalterliche Serbien seine letzten großen Schriftsteller und seine letzte monumentale Kunst: die Architektur und die Malerei der »Morava-Schule«. Schon die Zeitgenossen der tragischen Ereignisse in Serbien zwischen 1389 und 1459 sprachen von »Fortunas Rad«, wenn sie ihr eigenes Unglück betrachteten und sich an Rußland erinnerten, das sich in denselben Jahren, in denen die Serben unter das Türkenjoch gerieten, vom Tatarenjoch zu befreien begann. Die Schlacht von Kulikovo 1380 und die Schlacht am Amselfeld 1389 sind die Wendepunkte in der Geschichte der Beziehungen zwischen Südslawen und Russen. Während in der Mitte des 14. Jahrhunderts Kaiser Dušan dem russischen Kloster auf dem Athos Hilfe erwies, das das von den Tataren ausgeplünderte Rußland nicht unterstützen konnte — erscheinen in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts serbische und bulgarische Emigranten in Rußland, die im fernen Norden Almosen und einen stillen Winkel suchten, um den Rest ihres Lebens zu verbringen.
Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an strahlte die byzantinische Kunst nicht mehr auf die Nachbarvölker aus, viel mehr verlagerte sie sich aus ihrem Zentrum in die Emigration. Die Biographie des bekannten Malers aus Konstantinopel, Theophanes' des Griechen, der sein Leben in Rußland beendete (um 1415), beschreibt wahrscheinlich nicht das ungewöhnliche Schicksal eines byzantinischen Künstlers am Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts. Vermutlich war seine Biographie des Wanderkünstlers den Biographien der anderen zeitgenössischen Meister aus Konstantinopel ähnlich. Theophanes begann seine Laufbahn in Konstantinopel, später malte er in Chalcedon und Galata, wanderte nach Theodosia (Kaffa) auf der Krim und setzt seine Tätigkeit in Novgorod und Moskau fort. In Moskau malte er mit Fresken drei Kirchen aus. Cfr. Manche irrenden Schriftsteller aus denselben Zeiten bewegen sich in ähnlichen Bahnen: Sie flüchten entweder direkt über das Schwarze Meer nach Rußland oder wandern dorthin auf dem Umweg über den Athos, Bulgarien und Serbien, dann über die Walachei.
Die Bedrohung des Balkans durch die Türken hatte gegen Ende des 14. Jahrhunderts auf dem breiten Gebiet von der Peloponnes und den ionischen und ägäischen Inseln bis an die Donau eine fieberhafte Erregung in den literarischen und künstlerischen Kreisen der alten christlichen Kultur des Balkans hervorgerufen. Im mittelalterlichen Serbien entstanden am Ende des 14. Jahrhunderts befestigte Klöster mit Mauern und Türmen. Wie einst in der Architektur der Vladimir-Suzdal-Schule vor der Tatareninvasion, so blühte auch in der serbischen Architektur vor dem türkischen Endsieg, in der »Morava-Schule« des ephemeren Despotenreichs, ein dekorativer Stil, beladen mit einem lebendigen polychromen und plastischen Schmuck, in dem phantastische Wesen, stilisierte Blumen und Flechtbänder dominieren. Cfr.
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Resava (Manasija), Sv. Trojica, Fresco: Die Seelen der Gerechten in der Hand Gottes; 1406/18

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Ravanica, Himmelsfahrtskirche, Fresco: Märtyrer; um 1375

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Kalenić, Marienkirche, Zwei Kriegerheilige: Anfang des 15 Jahrhunderts

Wahrend sich an den Fassaden der Kirchen der »Morava-Schule« eine lebhafte Dekoration mit Elementen der Volksphantastik verbindet, findet sich in den Innenräumen derselben Architektur eine feine, sentimentale Malerei mit ausgeprägt aristokratischem Charakter. Die Fresken in Ravanica (um 1375), Kalenić (aus den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts) und Resava (um 1415) stützen sich auf die frühen Formen der Paläologen-Renaissance; aber der Klassizismus der Anfangsperiode mit seinem ziemlich aufdringlichen Kolorit und steifer Plastik verwandelt sich in Serbien am Ende des Jahrhunderts in einen sentimentalen, geistvollen, weichen Stil durchsichtiger Farben und sehr durchdachter, maßvoller Komposition. Auf den Fresken in Ravanica kann man gewisse Wiederklänge der feinsten Malerei aus Mistra, besonders aus der Peribleptos-Kirche finden; aber gewisse, in der Peribleptos-Kirche erst angedeutete Merkmale bekommen ihren noch edleren Ausdruck etwas später in der nördlichen Oase der letzten großen byzantinischen Malerei auf dem Boden des Balkans — im serbischen Despotenreich.
Die feine, ruhige Lyrik des anonymen großen Malers der Fresken in Kalenić (um 1400), war schon etwas früher trockener ausgedrückt worden in Kosia (1387) — in Rumänien — in einem Kloster, das unter unmittelbarem serbischem Einfluß entstanden ist.
Ende des 14. — Anfang des 15. Jahrhunderts beginnt die serbische Kunst in das benachbarte, etwas mehr Sicherheit bietende Rumänien auszuweichen.
Fast gleichzeitig mit griechischen und bulgarischen Meistern erreichten auch serbische Meister Novgorod — um 1380. Die hervorragendsten Fresken in Novgorod — von 1378 bis um 1420 — knüpfen ziemlich bestimmt an Muster in Konstantinopel und auf dem Balkan an. Die Liste der Parallelen wurde in den letzten Jahrzehnten aufgestellt. Zuerst wurde die Ähnlichkeit zwischen der Malerei in Kovaljovo (1380) und den Fresken in Ravanica (1375) bemerkt. Die Parallelen zwischen der russischen und der balkanischen Malerei im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert erscheinen nicht nur in gegenseitigen Ähnlichkeiten von Denkmälergruppen. In diesem Prozeß des Gebens und Empfangens findet sich eine noch viel bedeutendere Parallele. Die russische Kunst dieser Zeit durchlief dieselben Verwandlungsphasen wie die Kunst in Konstantinopel, Bulgarien und Serbien. In der ersten Phase dominiert der plastisch streng definierte Klassizismus ruhiger Gestalten und zurückhaltender Gesten. Er wird von einem neuen, dramatischen Stil abgelöst, der in Bulgarien in Ivanovo (um 1360),
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Volotovo, Koimesiskirche, Fresco: Evangelist Johannes; um 1380.

im mittelalterlichen Serbien im Markuskloster (um 1370)
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Marko-Kloster, Sv. Dimitri, Fresco: Evangelist Johannes; um 1380.

und in Novgorod in Volotovo (1380) deutlich zum Vorschein kommt. Den Höhepunkt dieses »zweiten Stils« stellen die Werke Theophaness des Griechen in der Kirche der Verklärung Christi in Novgorod (1378) dar. Die andere Richtung, der sentimentale, lyrische und dekorative Stil, in Kosia (1387) und Kalenić(1400) schon formiert, feierte seinen Triumph in Rußland (in Moskau und Vladimir) in den Werken A. Rubljevs.
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Moskau, Kreml, Verkündigungskathedrale, Ikone von Andrej Rubljev: Apostel Petrus aus der Verklärung Christi; um 1405

Abgesondert betrachtet, strahlt die Malerei des großen Rubljev als Höhepunkt einer lyrischen, spiritualen Kunst. Es wäre aber geschichtlich unberechtigt, die Idee von der erhabenen Isolation Rubljevs zu unterstützen — er war ein großer Maler, der zu einer großen internationalen Malerei gehörte, in der es auch andere anonyme und dem Namen nach bekannte Maler von ebenso hoher Qualität gab. Die berühmte Hl. Dreifaltigkeit Rubljevs (gemalt 1422) ist wirklich ein weltbekanntes Bild — aber die etwas lebendiger charakterisierten und strenger modellierten Evangelisten des serbischen Meisters Radoslav (gemalt 1429), in einem strahlenden, prachtvollen Kolorit, zeugen davon, daß es im weiten Reich der byzantinischen Kunst — in den Jahren vor dem endgültigen Zusammenbruch der byzantinischen politischen und kulturellen Gemeinschaft — auch andere große Meister gab, die der großen Kunst Rubljevs gewachsen waren.
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Leningrad, Öfentlische Bibliothek, Ms. Nr. F. I. 591 (serbisches Evangeliar) Miniatur von Meister Radoslav: Evangelist Matthäus; 1429

Die vielen erhaltenen Kunstdenkmäler in Mistra, in Rußland, in Serbien und in Bulgarien erlauben uns die gegenseitigen Ähnlichkeiten geographisch sehr entfernter Denkmäler bis in Einzelheiten zu verfolgen. Aber gleichzeitig sind wir in der Lage, auch die sehr bedeutenden Unterschiede zu verfolgen, die in neueren, frischeren, oder intensiveren Interpretationen von älteren Mustern erschienen.
Wenn man einst ein kritisches Studium der Beziehungen zwischen der zentralen byzantinischen Kunst und ihrer slawischen Ausläufer einleiten wird, wird man wahrscheinlich mit der besser erhaltenen, späteren Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts beginnen müssen. Mit dieser Forschungsmethode wird man die subtilsten Elemente der kunstästhetischen Probleme erfassen. Eine große Voreingenommenheit verhinderte die wissenschaftliche Erforschung der byzantinischen Kunst. Die Kunstgeschichte in Europa und in der Welt bildete sich an Problemen und Kriterien, die beim Studium der westeuropäischen Kunst in Erscheinung getreten waren. Diesem Umstand ist zu danken, daß Methoden für das Studium einer sich progressiv entwickelnden Kunst geschaffen worden sind, einer Kunst, die mit der ebenso progressiven Entwicklung der Gesellschaft, der Technik, der Wissenschaft, des religiösen Gedankens und der Philosophie eng verbunden war. An den Ideen der westeuropäischen Kunstgeschichte gebildet, suchten viele Forscher der ostchristlichen Kunst — besonders im Westen — in der byzantinischen Kunst Entwicklungsprozesse, die in ihr nie vorgekommen sind. Der Lebensgang der byzantinischen Kunst war nicht progressiv — aber diese Tatsache selbst hatte keine negative Auswirkung auf die Qualität und das Schicksal der östlichen Kunst.
In der mittelalterlichen Kunst des christlichen Ostens existierte die Kunst als ein fester Bestandteil eines deduktiven Prozesses, dem auch der religiöse Gedanke und die Literatur unterstellt waren. Im ersten Augenblick erscheint dieses Problem der ewigen Ableitung alles Erhabenen, Exakten und Schönen aus großen alten Vorbildern, aus der Vergangenheit als schöpferisches Unvermögen, als Konservativismus, sogar als Erstarrung. Aber die ganze Kraft der byzantinischen politischen Übermacht, der ökonomischen Überlegenheit und der kulturellen Größe, beruhte auf einem einzigen Prinzip, auf dem Kultus der Tradition. Indem es die Traditionen bewahrte, war Byzanz im Mittelalter progressiv: Alle jungen Völker Europas, besonders in ihrer Nähe, erblickten in Byzanz das Ziel und Vorbild ihres Fortschritts.
Die Macht des alten exemplums in der byzantinischen Kunst war bis zu jenem verhängnisvollen Augenblick unbegrenzt, in dem die allgemeine Entwicklung der europäischen Völker die Entwicklungsstufe von Byzanz erreichte.
Alle slawischen Völker, die ihre Religion und Kultur von Konstantinopel empfangen hatten, genossen im hohen Mittelalter große Vorteile aus ihren Verbindungen mit Byzanz. Aber diese Verbundenheit begann schon seit 1300 und besonders in der Zeit zwischen 1400 und 1450 für die slawischen Nachfolger von Byzanz verhängnisvoll zu werden. Von den Jahren an, in denen der christliche Osten die Kontakte mit dem restlichen Europa zu verlieren begann, zuerst aus konfessionellen Gründen, später unter dem Druck der Türkeneroberungen, verwandelten sich die von Byzanz ererbten Kulturtraditionen in eine allzuschwere Bürde.
Die Rückkehr nach Europa, und auch zur europäischen Kunst, begann in den Ländern der orthodoxen Slawen erst in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts. Die Russen und Serben traten der Literatur und Kunst Europas in vollem Umfang am Anfang des 18. Jahrhunderts und die Bulgaren erst hundert Jahre später bei.
Die letzten Spuren des phanariotischen Byzantinismus, überlebt und verhaßt, hinterließen unter den breiten Schichten der Christen des Balkans im 18. und 19. Jahrhundert völlig unklare und falsche Vorstellungen von dem wirklichen Wert der mittelalterlichen byzantinischen Kultur. Die Politik, besonders die Kirchenpolitik Konstantinopels — in den chaotischen Verhältnissen auf dem Balkan im 19. Jahrhundert — verdunkelten die Blicke in die Vergangenheit, in der das alte Byzanz eine wirklich strahlende Rolle gespielt hatte.
Ich möchte die mittelalterlichen byzantinoslawischen Beziehungen nicht idealisieren, indem ich sie vorwiegend vom Standpunkt des Kulturhistorikers aus betrachte. Aber ich muß zugeben, es scheint mir, daß ich, je mehr Europa älter wird, die Größe und die Schönheit der Rolle des alten Byzanz um so besser verstehe. Ich will nicht verbergen, daß in mir ab und zu der sündliche Gedanke erwacht, daß Europa in unseren Tagen — im Weltausmaß — immer mehr Ähnlichkeiten mit Byzanz zeigt — und daß es auf dem Gebiete der Literatur und Kunst der Neuen Welt nur durch die unermeßlichen Kräfte seiner Kultur — und besonders Kunsttradition imponieren kann.
Athen im Römischen Reich, Byzanz im Mittelalter und Europa in der Welt von heute waren und blieben Lehrer der jungen Völker. Ich habe versucht, aus dem Mittelabschnitt dieser Geschichte, leider sehr verallgemeinert, darzustellen, wie die slawischen Völker unter byzantinischem Einfluß ihre mittelalterliche Kunst schufen und wie sie dabei den Traditionen der Antike folgten, die immer die wichtigste Quelle und das Vorbild der europäschen Kultur in der Vielfalt ihrer Erscheinungen, und besonders auf dem Gebiet der immer ähnlichen, um nicht zu sagen gleichen europäischen Kunst, war und ist.


In: Kunst und Geschichte in Südosteuropa : 9. Internationale Hochschulwoche der Südosteuropa -Gesellschaft / herausgegeben von Klaus Wessel. – Recklinghausen : Aurel Bongers, [cop. 1973]. pp 35—50 + taf. 22—41. – (Südosteuropa-Jahrbuch ; Bd. 10) (Beiträge zur Kunst des Christlichen Ostens ; Bd. 7)