Rajić' historische Kritik
von Nikola Radojčić
Auszug aus der im „Rad JAZU" , Bd. 233, S. 110—144 veröffentlichten Abhandlung.
In der serbischen Geschichtsschreibung des Mittelalters gab es keine historische Kritik; eine solche ist ja in jenem Zeitalter auch sonst selten anzutreffen. Die serbischen Geschichtsschreiber ließen sich regelmäßig nur bei der Behandlung der Frage nach dem Ursprung der Serben und den Anfängen der Dynastie der Nemanjić in Hypothesen und historische Kritik ein, sonst aber nicht. Eine ausgreifendere und tiefere historische Kritik beginnt sich erst vom XVIII. Jh. zu entfalten, seit dem Wiedererwachen der Wissenschaften bei den Serben, die sich aus der Türkengewalt nach Ungarn gerettet hatten. Das historische Studium erfuhr notwendigerweise unter allen wissenschaftlichen Disziplinen bei den Serben die stärkste Pflege, da es zugleich ein Mittel zur Verteidigung ihrer Rechtslage in Ungarn darstellte. So ist es zu erklären, daß bei ihnen das geschichtliche Studium unter allen Disziplinen den ersten Rang einnahm; dabei konnte die historische Kritik gleichfalls nicht fehlen, da es sich ja unter dem Einfluß der auswärtigen Geschichtsforschung entwickelte, in der, wenn auch ohne sichere Methode, historische Kritik angewandt wurde. Der Autor der vorliegenden Studie hat dem allmählichen Eindringen des kritischen Geistes in die serbische Geschichtsschreibung schon vorher eine besondere Abhandlung unter dem Titel : „Über die Anfänge der historischen Kritik bei den Serben“ (Denkschrift zu Ehren S. M. Lozanić' [1922], S. 241—251) gewidmet. Dort ist der Nachweis geführt, daß auch die serbische historische Kritik — analog wie bei andern Völkern — in ihren Anfängen konfessionell, patriotisch und dynastisch gewesen ist. Daher ist an allen Berichten der Quellen und Behauptungen der Autoren historische Kritik geübt worden, sofern sie den konfessionellen, patriotischen und dynastischen Gefühlen der Serben zuwiderliefen. Unter den einsch ägigen Autoren wurde von den serbischen Historikern am meisten die slavische Übersetzung des Mauro Orbini (1722) kritisch behandelt, weil man annahm, er habe als eifernder Papist und einseitiger Ragusaner Patriot die serbische Vergangenheit in ein schiefes Licht gerückt. In diesem Sinn ist historische Kritik vom Grafen Georg Branković geübt worden, ferner vom Bischof Vasilije (Basilius) Petrović, dem Schreiber der Tronošer Genealogie, sodann von Pavle (Paul) Julinac. Eine gründlichere und allseitigere historische Kritik wurde in die serbische Geschichtsschreibung erst durch Jovan (Johann) Rajić (1726—1801) eingeführt.
Rajić vollendete im Jahre 1768 seine große „Geschichte verschiedener slavischer Völker, namentlich der Bulgaren, Kroaten und Serben"; erschienen ist sie in Wien in vier großen Bänden samt einem Nachtrag in den Jahren 1794—5. Das hervorragende Werk rief auch bei den deutschen Historikern einige Rezensionen und Besprechungen hervor, unter denen die in der Jenaer Allgemeinen Üteraturzeitung vom Jahre 1797, IV, erschienene die wichtigste ist; sie füllt viele Seiten dieses Jahrganges (369—73, 449-63, 465—70, 473—8). Welch einer Wertschätzung sich das Werk bei den Russen erfreute, erhellt daraus, daß der erste Band, der übrigens der schwächste ist, dort einen Nachdruck erfuhr. Sonst wurde im Ausland dieser erster großen gedruckten Geschichte der Südslaven eine scharfe Beurteilung zuteil, wenn man auch aus ihr die erste Kenntnis etlicher serbischer Geschichtsquellen schöpfte, die vom Autor, der darin den Hauptvorzug seines Werkes erblickte, zum erstenmal wissenschaftlich verarbeitet worden sind.
Für dieses ablehnende Verhalten dem Werke Rajić' gegenüber ist bei einigen Kritikern neben wissenschaftlichen Gründen auch konfessionelle, nationale und politische Voreingenommenheit verantwortlich zu machen. Die objektivste Würdigung des Geschichtswerkes Rajić' ist die von A. L. Schlözer in der Widmung des zweiten Bandes seiner Nestorausgabe.
Bei den Serben selbst ließ das hohe Ansehen, dessen sich das Werk Rajić' erfreute, die längste Zeit keine Kritik aufkommen. Die ersten schüchternen Bemängelungen betrafen die Sprache des Autors und seine wenig entschiedene, ja furchtsame Haltung. Überhaupt ist bisher die historische Kritik Rajić' noch nie zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht worden; in der vorliegenden Studie wird diese Arbeit zum erstenmal geleistet.
Den Sinn und das Verständnis für das kritische Arbeiten in der Wissenschaft überhaupt holte sich Rajić bei dem großen russischen Aufklärungsschriftsteller Thepfan Prokopovič. Er war sich darüber im klaren, daß man ohne Kritik nicht zur Wahrheit gelangen könne und daß diese Wahrheit selbst einer Kritik unterliege. Sein Streben nach völliger Unparteilichkeit in geschichtlichen Dingen ist redlich. Er wußte, daß man der Darstellung „historische Regeln" zugrunde legen müsse (II, 193) — wir würden heute sagen, man müsse nach methodischen Grundsätzen arbeiten; eine Scham vor nachheriger Richtigstellung betrachtete er als „äußerste Beschränktheit" (II, 548). Das sind orzügliche Eigenschaften eines guten Historikers. Seine Ansichten über das Verhältnis zu den. Quellen sind durchaus modern. Unermüdlich wiederholt er, daß es ohne Quellen keine Historie geben könne. Hierin übertreibt er sogar und verfällt bisweilen in ein chronologisches Aneinanderreihen von Quellen, als seien diese an und für sich — ohne Kritik und ohne Darstellung — schon wahre Geschichte, So hinterläßt sein Geschichtswerk nicht selten den Eindruck einer geschichtlichen Chrestomathie, in der Zitate aus Quellen vermittels patriotischer und aufklärerischer Reflexionen des Autors zusammengeschweißt erscheinen. Rajić unterschied in der Theorie vollkommen richtig zwischen Quellen, die zeitgenössisch sind, und solchen, die es nicht sind; den ersteren schenkte er den meisten Glauben; von Urkunden machte er sehr selten Gebrauch. Allein in der Praxis ging er anders zu Werke. Hier teilte er die Quellen in heimische und fremde ein, und schenkte, wenn nur möglich, den ersteren Glauben, wohingegen er die anderen ablehnen zu dürfen glaubte — besonders die Griechen wegen ihrer abträglichen Nachrichten über die Slaven. Wenn er schon an den heimischen Quellen Kritik übt, so geschieht es wegen ihrer mangelnden Chronologie und wegen der Charakterlosigkeit der Geschichtsschreiber. Alle Arten der damaligen Kritik weiß er zu handhaben; am seltensten übt er Textkritik, öfters chronologische Kritik, am liebsten jedoch ist ihm die rationalistische Kritik. In den beiden ersten Arten von Kritik ist er nur selten glücklich. Seine kritischen Erwägungen gedeihen sehr oft nicht zu Ende. Er begnügt sich, das Material vor dem Leser anzuhäufen und ihm die Entscheidung anheimzustellen; dieses Verfahren kann aus seiner Zaghaftigkeit erklärt werden. Eben deswegen schließt er sich oft der allgemeinen Meinung an oder macht sich die Ansieht der Majorität der Quellen zu eigen. Die Motive der historischen Kritik sind bei Rajić konfessioneller Natur, wenn er auch darin diskret zurückhält, sodann patriotisch und aufklärerisch. Als begeisterter Verehrer der Wissenschaft lehnte er alle Quellenberichte ab, sofern sie sich mit dem gesunden Verstand nicht reimen ließen, und wird nicht müde den Satz zu wiederholen, daß die Bildung der wichtigste Faktor des Fortschrittes im Volke sei.
Sein Respekt vor der Wissenschaft ist geradezu fanatisch, aber so hoch er sie auch stellt, geht er gleichwohl wissenschaftlichen Hypothesen gern aus dem Weg und schätzt aus demselben Grund die historische Literatur nicht genug hoch: denn wenn ihr Inhalt mit dem der Quellen übereinstimme, so sei sie entbehrlich, wenn sie von den Quellen abweiche, so tauge sie zu nichts. Daher zieht Rajić nur wenig historische Literatur heran und auch diese nur mit größtem Mißtrauen, welches sich im geraden Verhältnis, zur Buntheit der darin ausgesprochenen , Hypothesen steigert. Natürlich ging er selbst, wenn tunlich, allen hypothetischen Aufstellungen aus dem Weg und wendet sie nur dann an, wenn ihn die Quellen gänzlich im Stich lassen. In solchen, sehr seltenen, Fällen wird der Leser von ihm förmlich zu einer kritischen Stellungsnahme gezwungen. So wie Hypothesen meidet Rajić, ganz im modernen Sinn, auch Wertungen von Persönlichkeiten; er stellt dies dem Leser anheim.
Man glaubte früher allgemein, das Geschichtswerk des Jovan Rajić sei von den ungedruckten Chroniken des Grafen Georg Branković stark abhängig, allein dies trifft nicht zu. Viel Öfter diente der erstere unserem Historiker nur als Wegweiser beim Auffinden von Quellen und literarischen Nachweisen denn als Grundlage, auf der er seinen historischen Bau aufgeführt hatte. Er verwendete recht viel — und zwar mit vollem Recht — nur den Memoirenabschnitt der Chroniken. Sonst zog er diese in analoger Weise wie die übrige Literatur heran, doch wo der Graf über die Brankoviće oder über seine Person redet, verhehlte er nicht sein Mißtrauen. In diesen Dingen vermag er ihm nur wenig Glauben zu schenken, was man vollkommen billigen muß.
Die historische Kritik des Jovan Rajić hat alle typischen Züge des Anfängertums an sich. So trefflich seine theoretischen Auslassungen darüber sind, so wenig ist die praktische Anwendung befriedigend und konsequent. Neben Abschnitten mit lichtvoller Kritik findet man solche, die jeder Kritik bar sind. Darin steht Rajić nicht vereinsamt da. Alle Anfänger in der historischen Kritik verfuhren ebenso wie er.
Konfessionelle, patriotische, namentlich aber aufklärerische Tendenzen ließen bei ihm eine streng wissenschaftliche Handhabung der historischen Kritik nicht aufkommen ; auch seiner persönlichen Furchtsamkeit muß man manches zugute halten. Gleichwohl ist Rajić in der serbischen Geschichtsschreibung bahnbrechend geworden. Er hat die Wichtigkeit der Kritik betont und an Beispielen die Handhabung aller Arten wissenschaftlicher historischer Methoden vorgeführt. Ein feines Gefühl für Probleme aus der serbischen Geschichte, die die Anwendung historischer Kritik erheischen, war ihm eigen; etliche dieser Probleme hat er in recht subtiler Arbeit der Lösung zugeführt, auf andere wenigstens hingewiesen. Auf diesen Spuren wandelte die nachherige serbische Geschichtsforschung jahrzehntelang, indem sie sich die Lösung der von Rajić aufgespürten Probleme — aber mit vollendeteren Methoden und mit Hintansetzung unwissenschaftlicher Ziele, deren er sich nicht zu entschlagen vermochte — zur Aufgabe setzte. Die Grundlagen zu der außerordentlich fein entwickelten historischen Kritik bei den Serben sind von Rajić gelegt worden. Er hat die wichtigsten Objekte der historischen Kritik in der serbischen Geschichte herausgefunden, hat sie als solche festgestellt und oft auch deren Lösung angebahnt.
In: Bulletin international de l’Académie Yougoslave des sciences et des beaux-arts de Zagreb ; classes : d' histoire et de philologie ; de philosophie et de droit; des beaux-arts et belles lettres. — Livre ?. (1931 ????) 86-90.